Ich bin kein Phönix

Ganz ehrlich? Das mit dem psychisch krank sein, speziell das mit den Depressionen, habe ich mir ganz anders vorgestellt. Nicht, dass ich im Detail sagen könnte, wie, aber sicher nicht so, wie es jetzt ist.
Nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum, dass ich mir das irgendwie lustig vorgestellt hätte und mir die Unterhaltung jetzt nicht zusagt.

Aber von vorne:
Lange bevor ich 2013 meine erste Diagnose (mittelgradige rezidivierende Depressionen mit Panikattacken) bekam, war ich schon erkrankt, ohne es zu wissen. Für mich war also alles „normal“, was ich empfand, wie ich Dinge erlebte und ja, auch wie leistungsfähig ich war. Sein wir ehrlich: Lange Zeit war ich scheinbar leistungsfähiger, als es mir guttat.

Rückblickend betrachtet führte meine Ignoranz mir selbst gegenüber dazu, dass ich teilweise sehr wenig empathisch anderen (wissentlich) depressiven Menschen gegenüber war. Ich hätte sie niemals verurteilt. Davon bin ich weit entfernt gewesen.
Es kam jedoch vor, dass mir ein Mensch etwas schilderte im Zusammenhang mit seiner Depression und ich das sicher auch mal etwas barsch überging. „Das hat nicht mit deinen Depressionen zu tun, das geht mir doch genauso. Das geht allen so. Das ist normal.“

Manchmal denke ich an diese Zeit und wünschte mir, ich hätte andere Rückschlüsse gezogen. Vielleicht hätte ich dann früher die Warnsignale bemerkt, mich früher um Therapiemöglichkeiten kümmern können. Ob es letztlich an dem weiteren Verlauf was geändert hätte, weiß niemand und ist mir ehrlich gesagt auch egal, Aber „früher“ wäre ja eventuell gut gewesen?
Diese Gedanken mache ich mir wie gesagt nur manchmal.

Viel öfter streift mich die Scham. Wie sehr habe ich tollen Menschen unrecht getan? Nicht nur hatte ich fehlende Selbstreflexion bewiesen und zu allem Überfluss die Verallgemeinerung daraus geschlossen, dass es „allen“ so gehen müsste – eine Naivität, über die ich heute noch den Kopf schüttel – ich hatte einem anderen Menschen die Empfindung seines Leids wenn auch nicht gewollt zu einem Stück abgesprochen.
Nie wirklich in letzter Konsequenz. Ich nahm und nehme Dinge ernst, wenn man sie mir erzählt. Egal ob es ein „Label“ zu diesem Leid gibt und ob das „Depression“ ist oder nicht. Aber man hätte es so interpretieren können, dass ich dieses Label versucht hätte abzukratzen. Etwas, worauf ich extrem allergisch reagiere. Wahrscheinlich rührt auch genau daher die Stärke meiner Scham.
Die Personen, denen ich meinen neuen Erkenntnisstand nach Unrecht getan hatte, bat ich allesamt um Entschuldigung. Keiner von ihnen hatte es letztlich als schlimm empfunden. Zwei Personen teilten mir sogar mit, dass sie diese Diagnose bei mir schon erahnt hatten. Es hatte wohl auch Andeutungen in diese Richtung gegeben, jedoch ohne Erfolg. Ich schob ihre gut gemeinten Worte weit weg von mir.

Nachdem ich die Diagnose an der Hand hatte, schmiedete ich sofort Pläne. Auch meine behandelnden Ärzte und ich waren uns einig, dass ich versuchen konnte, weiter zu arbeiten, begleitend eine Therapie zu beginnen und Antidepressiva (hier: Venlafaxin) zu nehmen.
Es wurde eine weitere Krankschreibung für zwei Wochen ausgeschrieben um das AD einzuschleichen.

So gab ich mir zwei Wochen, um „wieder klar zu kommen“. Nicht für eine vollständige Heilung. Ich hatte als Jugendlicher, damals ohne Diagnose, schon eine Therapie gemacht und wusste, dass es Zeit braucht. Aber um stabil genug zu sein „zu funktionieren“.
Die Arbeitsversuche nach der Eingewöhnung des Medikaments scheiterten. Daher wurde der Plan geändert.
Neben den Medikamenten sollte ich für 5-6 Wochen in die Tagesklinik.

Mein neuer Plan war also: 5 Wochen (6 stand für mich nicht zur Debatte) Tagesklinik und dann schnell wieder zur Arbeit. Die Lage dort war angespannt und ich hatte Angst, zu lange aus dem Alltag raus zu sein. Große Teile meines Umfelds rieten mir dazu, „schnell wieder in den Sattel zu steigen“.

Mein Horizont, meine Vorstellung davon, wie „Heilung von Depression“ auch zeitlich aussehen kann, verschob sich schon binnen der ersten Wochen und Monate rapide. Jede dieser Zielsetzungen „brauchte“ ich.

Zu Anfang war ich nicht wirklich in der Lage dazu meine Situation realistisch einzuschätzen. Um überhaupt den Gedanken zulassen zu können, dass etwas nicht ganz rund läuft, brauchte ich eine Idee davon, dass das „möglichst schnell“ wieder „läuft“. Wobei „das“ hier insbesondere mein Job war. Der stand, wie ich wusste, auf der Kippe. Da die Konditionen auf den ersten Blick gut waren, die Stelle mich thematisch interessierte und der Beruf mir an sich lag, wollte ich das natürlich nicht riskieren.

Zunächst schien der schnellste Weg dahin die Einnahme des AD und ambulante Therapie zu sein und als das nicht funktionierte eine absehbare Zeit in der Tagesklinik.
Während dieser Zeit jedoch flatterte mir die Kündigung in den Briefkasten. Ich weiß, dass Teile meines Bekanntenkreises Sorge hatten, ich würde mich deswegen gehen lassen. Dabei waren sich eigentlich alle einig: Man sollte schnell wieder in den Sattel steigen.

Ich selbst war noch so fixiert darauf, zumal alle Argumente logisch klangen, schnell wieder zu arbeiten, dass ich mich sofort auf neue Stellen bewarb. Wie sollte ich auch eine womöglich monatelange Lücke im Lebenslauf begründen? Die Therapeutin, die mich damals betreute, hatte ihre liebe Mühe mich zu etwas mehr Geduld und Nachsicht mit mir selbst zu bewegen. Auch hier verhandelte ich immer wieder im Dialog Wege, Ziele und Zeitpläne.
Zeit ließ ich mir allerdings nur ungern und wie schon nach der Diagnosestellung war „möglichst schnell wieder arbeiten“ mein dringendstes Anliegen. Der direkte Weg dahin musste doch über neue Bewerbungsunterlagen und entsprechende Einstellungsverfahren führen.
Anfangs scheiterte ich schon am Bewerben an sich, später dann in den Vorstellungsgesprächen. Mich wollte zu meinem Unverständnis keiner. Heute bin ich dankbar dafür. Zu sehen, wie viel Kraft mich das ganze kostete und wie tief mich jede neue Absage riss, selbst wenn ich mich unwohl gefühlt hatte, lieferte meiner Therapeutin die nötigen Argumente und ich sah langsam ein, dass ich nichts erzwingen konnte.

In dieser Zeit stieß ich immer öfter auf das Bild des Phönix, des Feuervogels, der zu Asche zerfällt, nur um dann mit neuer, unbändiger Kraft wieder in Flammen zu stehen und sein volles Potenzial zu zeigen.
Das ist kein wirklich „besonderes“ Bild für Menschen in Krisen, egal wie die aussieht. Manche nutzten das Bildnis selbst, setzten es in Schmuck, Tattoos oder Basteleien um oder wählten ihren Nickname in Anlehnung an dieses symbolträchtige Wesen. Die Stärke und Aussagekraft des Bildes wurde nicht dadurch geschmälert, dass sich viele darin fanden und finden.
Auch ich wollte an dieses Bild für mich glauben.

Die Asche kannte ich, da war ich sicher, also würde jetzt bestimmt bald der Punkt kommen, an dem ich aufsteigen konnte, mit vollem Potenzial, alles überstrahlend, was in der Vergangenheit lag. Das sollte vergessen sein, besser heute als morgen. Ich müsste nur dieses Feuer finden und wer weiß? Vielleicht würde es anderen den Weg aus der Dunkelheit zeigen? Schließlich wollte ich es zumindest für mich erreichen und andere vor mir hatten es auch schon geschafft. Von ihnen hatte ich das Bildnis ja im Kopf.
Es schien fast schon ein Muster zu sein. Ich wurde krank, ging unter, ich fiel. Jetzt war doch sicher meine Zeit mein eigener Feuervogel zu werden, richtig?

Kurz gesagt: Nein.

Ich bin kein Phönix. Ich habe nie aus dieser Asche herausgefunden, habe nie die Welt meine weiten Schwingen mit leuchtenden Flammen sehen lassen. Ich habe keine Kraft aus der Hitze der Flammen geschöpft, bin mit Leidenschaft und neuer Stärke wieder auf meinen Weg zurückgekehrt oder hätte gar mit dem Feuer mir eine neue Schneise freigebrannt.

Ich bin kein „Girl on fire“, kein Mädchen, das in Flammen steht. Weder fand ich etwas von außen, dass mich „anzündete“, noch kam da irgendeine Flamme aus mir, die mich entfachte. Nach jetzt fast 10 Jahren mehr oder minder durchgehender und teilweise extrem intensiver Psychotherapie darf ich das wohl sagen und jeder Gedanke daran, dass das sicher noch kommt wäre weit mehr als naiv. Aus mir wird keine lodernde Flamme und kein Phönix mehr werden.

Was heißt das jetzt? Mimimi und Jammerei? Mitleiderhaschen? Ein Bad im Staub und Asche des berühmten in Flammen stehenden Vogels, der ich nicht bin und auch nie war? Kann mir bitte jemand eine Tüte Mitleid mitbringen?

Weit gefehlt.
Ich bin stark. Das weiß ich. Das hat das Leben mich erfahren lassen immer und immer wieder. Zugegeben: Ich habe das nicht immer gespürt, gerade wenn es mir schlecht ging.
Ich bin unsicher, ob ich das hier in einem Blogbeitrag schon einmal erzählt habe, aber selbst wenn, dann ist es eben eine Wiederholung.

In der Tagesklinik gab es eine Situation, in der ich im Einzelgespräch mit dem Bezugstherapeuten saß und bitterlich weinte. Ich fühlte mich so schwach, verletzlich und hoffnungslos, dass ich keine Worte dafür fand. Das war noch in einer Phase, in der ich sehr viel maskiert habe, sehr gedeckelt war und an Emotionen im Grunde genommen auch von außen kaum heranzukommen war.
In dieser Situation sah mich der Therapierende an und sagte mir, dass ich sehr stark sei.
Ich erinnere mich noch, dass ich völlig entgeistert sofort aufgehört hatte zu schluchzen und die Person, die mir gegenüber saß mit offenem Mund und tränennassem Gesicht ansah. Das musste ein Missverständnis sein, oder? Aber der Blick, der auf mir ruhte war ruhig und sicher. Ich muss dazu erwähnen: Das war kein „Kuschel-Wohlfühltherapeut“, sondern mehr die Axt im Walde. In dem Moment passierte etwas in mir. Wenn jemand, der mich nicht näher kannte und vor dem ich gerade fast schon wortwörtlich zerfloss vor Schwäche und Scham, in mir Stärke sah, dann musste daran etwas Wahres dran sein. Wenn jemand anderes sie in so einem Moment noch erkannte, dann musste sie irgendwo liegen. Daran musste ich damals glauben und ich tu es bis heute.
Dieser Satz hat mir in dem Moment viel Vertrauen geschenkt.

Dieses Selbstverständnis ist gerade in den letzten 2-3 Jahren immer wieder erschüttert worden. Nicht nur einmal fand ich mich am Abgrund oder gar in einem tiefen Loch. Aber insbesondere in den dunklen Phasen fand mich diese Erinnerung und die damit verbundene Erkenntnis wieder.
Wenn ich kurz davor war aufzugeben, wenn ich glaubte, eine Situation nicht überstehen zu können, konnte ich darauf zurückgreifen. Genauso wie auf andere Situationen, von denen ich vermutete, sie nicht überleben zu können, als sie Gegenwart waren. Ich habe überlebt und ich bin stark. Macht es das Leid weniger schmerzhaft? Nein. Ich leide nicht weniger dadurch und erst recht nicht weniger theatralisch. Aber es ist beruhigend selbst in Krisen sicher sein zu können nicht zu sterben. Denn ehrlich gesagt war ich teilweise so weit über meine Grenzen, dass für mein Gefühl nicht mehr viel gefehlt hätte.

Neben meiner Wohnungstür hängt ein Holzschild, das ich vor einigen Jahren auf einem Hobby- und Bastelmarkt sah und nicht vorbei gehen konnte.
Dass gesamte Bild hat einen hellblauen Hintergrund. Darauf ist in einem dunkleren Blauton eine Meerjungfrau angedeutet. Neben ihr steht in grüner Schrift folgender Text:

„My demons tried to drown me, but they didn’t know, I could breathe under water.“

zu deutsch:

„Meine Dämonen versuchten mich zu ertränken, aber sie wussten nicht, dass ich unter Wasser atmen kann.“

Meine Kraft kommt nicht aus dem Feuer, ist nicht hitzig, leidenschaftlich, setzt nicht in Schutt und Asche, was sie kleinzuhalten versucht.
Damit will ich nicht sagen, dass ich ausgeglichen und geerdet bin – weit entfernt!
Ich mag die Erdmenschen in meinem Leben sehr. Sie sind allzu oft mein Fels in der Brandung.

Meine Kraft ist die des Wassers. Es kann ruhig sein, auch wenn Kräfte wüten es zu erschüttern. Diese Stärke allem Stand zu halten, was ihm entgegengesetzt wird, zieht das Wasser aus der Tiefe.

Ich habe mein Leben lang diese Stärke erfahren. War ruhig und gelassen, habe mir (oft widerwillig) sagen lassen, wie „tapfer“ ich bin. Manchmal war ich erstarrt wie Eis. Hart und kalt. An anderer Stelle war ich impulsiv, weinte und tobte.
Ich habe die Kraft, mir Wege zu bahnen, wo vorher keine waren, ohne Feuer und ohne Axt. Ich kann brodeln oder einen kühlen Kopf bewahren.

Ich bin kein fliegender Vogel und ich mag mich manches Mal im Dreck suhlen, aber dort auf dem Meeresgrund liegt eben Schlamm.

Ich bin kein Phönix, aber ich kann unter Wasser atmen. Ich werde mir meinen Weg bahnen, egal wohin der führt. Komme, was da wolle.

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